Christiane Görner

Ma Rosa's Büchse

Eine Straße werden

Eine Straße werden. Hinabgesenkt werden und vertraulich ins Leere tasten wie welkende Tulpen, die zu mehr und mehr Form vertrocknen, hängend verwirbeln, gerinnen; einmalig, inniglich, endgültig, Gegenrichtung durch und durch.

Am Hermannplatz umsteigen aus der U7 in die U8, schon auf der Rolltreppe die Akkordeonklänge, nicht virtuos, nicht einmal besonders musikalisch, aber irgendwie wahr. Ein älterer Mann, ca. 55 Jahre alt, strahlend über das ganze Gesicht. Zart ärgerliches Staunen: Worüber freut der sich eigentlich? Die Antwort schlummert nur so durchs Bewusstsein, wandelt aber den zarten Ärger in zarte Rührung, fast Scham: Freude über "in Sicherheit sein" und tatsächlich werfen einige von Millionen Menschen (Quantität wird zur Chance in diesem Falle) Cents in die ovale durchsichtige Plastikschale. Wahrscheinlich enthielt sie mal Eiscreme. Denke ich im Weitergehen und nehme einen ca. 30 jährigen farbigen Touristen wahr, U-Bahn Fahrplan in der Hand kommt er mir entgegen, während mich links ein jüngerer Mann Mann mit Gitarre im Arm überholt. "Duo bilden" geht mir flüchtig durch den Sinn. "Konkurrenz" ebenfalls. Ich wende mich und nehme mit den üblichen, umständlichen und unnötig fahrigen Begleitgedanken und Bewegungen das Portemonnaie heraus. Die Musik ist nicht schön. Frage mich sogar, ob ich die Naivität, sich an diesem Ort über ein paar Cent zu freuen, unterstützen soll, diesen Menschen ermutigen soll DIES zu tun und nicht lieber etwas anderes oder... Aber da ich sowieso nur Kupfer hatte, blieben mir weitere Anwandlungen des geizigen Intellektes (getarnt als tiefere Gewissensqual) erspart.

Der Tourist hatte bei dem Akkordeonspieler inne gehalten und kramte gleichfalls nach Münzen, fast gleichzeitig bückten er und ich uns leicht über der Plastikdose. Ich sah einen kleinen Tropfen durchsichtigen Rotz an der Nase des Akkordeon Spielers und wiederum stieg eine zarte Anwandlung in mir auf, nämlich doch lieber diesen Tropfen zu entfernen, als ein paar Cents zu geben. Aber der Mann schloss im Moment der doppelten Zuwendung den Mund. Nur für Bruchteile von Sekunden sah ich den unvermeidlichen Goldzahn oben rechts, dann verwandelte der geschlossene Mund das Gesicht in ein ernstes und würdiges. Das grobe, fast lieblose Abarbeiten von Akkorden, keine Melodie verfolgend, wurde dadurch seltsamerweise nicht bedeutungsloser oder... nichtiger, sondern gerade umgekehrt erschien es erhöht. Meiner Empfindung nach nämlich, die nun mehr Verzweiflung ertragen konnte, aber nicht alle Verzweiflung, nicht diese eben unerträgliche Verzweiflung eines Lächelns, so eines maskierten oder schlicht irren Lächelns, das zur Grimasse erstarrt. Das traf mich so hart, dass ich es wahrscheinlich gar nicht bewusst hätte wahrnehmen können (denn wie wenig das uns begegnet und angeht nehmen wir schließlich wahr) wenn mein Blick nicht den Augen eines aussteigenden bärtigen Jünglings begegnet wäre, der wohl wiederum in meinen Augen irgendetwas sah, das ihn weckte, denn er strahlte mich an: eine kleine Ehe im Vorbeigleiten. Die Klänge des Akkordeons verschluckt vom Warnsignal und dem Krachen schließender U-Bahn Türen, eine französische Familie neben mir, eine Sprache, die so gar nichts begreift, wie mir schien, weil ich selbst nichts mehr begriff, eine Silhouette auf dem Bahnsteig, die zwei Schritte läuft, stutzt, mit raschem Entschluss Richtung U-Bahn huscht (Spannung ob die Silhouette zurück bleiben wird)... - mir quollen Tränen in die Augen aus Überfülle der Erscheinungen, Überfüllung von Splittern und Zersplitterung, aus Mitleid mit mir selbst, da dies alles mir zufällt, ich in all dies zerfalle. Eine kleine Straße auf der dies alles sich zuträgt und die sich in dem Selbstmitleid, selbst doch eigentlich nichts zu sein, leider noch genießen kann. Was auch wiederum rührend ist.

Den Touristen habe ich, glaube ich, am Alexanderplatz noch mal gesehen. Er sah aber dort ganz anders aus, als ich dachte.



zurück zur Übersicht...